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8. Dezember 2021: Plenarrede zum Thema Impfen

Dr. Thela Wernstedt sprach für die SPD-Fraktion in der Sondersitzung des Niedersächsischen Landtags in der Debatte zum Thema Impfen.

Rede der Landtagsabgeordneten Dr. Thela Wernstedt (SPD), 123. Plenarsitzung

am 7. Dezember 2021 zu TOP 9 und 10:

„Booster-Impfung“

Antrag der Fraktion der FDP - Drs. 18/10162

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung - Drs. 18/10324

Änderungsantrag der Fraktion der FDP - Drs. 18/10348

  • Abschließende Beratung -

und

„Aufklären, Schützen, Impfen - gemeinsam 5. Corona-Welle verhindern!“

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 18/10333

- Erste Beratung -

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu den völlig richtigen Ausführungen des Kollegen Eilers zwei Aspekte hinzufügen, und zwar ein paar Gedanken zur Impfpflicht für besondere Berufsgruppen und zur allgemeinen Impfpflicht.

Man kann besondere Schutzverpflichtungen bestimmter Berufsgruppen zugunsten vulnerabler Gruppen sehr wohl begründen. Man kann sagen: Menschen, die mit ganz Jungen umgehen, mit ganz Alten umgehen, mit Menschen mit Behinderungen umgehen oder mit Kranken umgehen, haben eine besondere Schutzpflicht, wie z. B. Ärztinnen und Ärzte auch in ihrem Privatleben die Pflicht haben, zu helfen, wenn sie merken, dass es jemandem schlecht geht.

Wer sich damit beschäftigt, stellt fest, dass zum Dienst der Soldatinnen und Soldaten in unserem Land auch eine Pflicht gehört, sich impfen zu lassen. Denn wir setzen natürlich voraus, dass sie hier und auch bei Einsätzen im Ausland einsatzfähig bleiben und nicht reihenweise durch diverse Erkrankungen ausfallen.

Wenn man über einrichtungsbezogene, berufsgruppenbezogene Impfpflichten spricht, könnte man analog dazu auch über eine Impfpflicht des öffentlichen Dienstes nachdenken. Denn auch dort muss sichergestellt werden, dass staatliches Handeln funktioniert.

Heute Morgen habe ich in der Zeitung gelesen, dass ungefähr 600 Polizistinnen und Polizisten in Sachsen aktuell in Quarantäne sind und nicht für Einsätze zur Verfügung stehen. Damit wird sogar begründet, dass man Landesministerinnen nicht vor Demonstrationen schützen kann, die unangemeldet vor ihren Häusern stattfinden. Das ist ein besorgniserregender Zustand, dem man unter Umständen mit einer Impfpflicht beikommen könnte - ein Beitrag zur Diskussion.

Eine Impfpflicht für alle bedeutet keinen Impfzwang für alle. Das klang heute schon einmal in einer übertriebenen Darstellung in einigen Reden durch. Bei Nichtbefolgung der Pflicht würde eine Strafe in Form eines angemessen hohen Geldbetrages fällig oder etwas Vergleichbares.

(Dr. Stefan Birkner [FDP]: Eine Strafe oder eine Buße?)

- Ein Bußgeld oder wie auch immer man das nennen will, eine Strafe.

(Dr. Stefan Birkner [FDP]: Es wäre wichtig, zu wissen, ob es eine Straftat sein soll!)

Jedenfalls wird niemand von der Polizei in irgendein Krankenhaus gezerrt und dann dort zwangsgeimpft werden.

Pflichten waren in diesem Lande lange nicht in Mode. Rechte zu haben, klingt viel schöner, und man verärgert auch keinen, wenn man Überlegungen darüber anstellt.

Freiheit zu haben, ist auch klasse. Über Grenzen der Freiheit wird bei uns aber viel seltener geredet.

Sehr viel Rechtsprechung in unserem Land, Urteile des Bundesverfassungsgerichtes eingeschlossen, orientiert sich an der Ausweitung und Festigung individueller Freiheiten und Rechte. Zuletzt hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu Suizid und Suizidbeihilfe bei vielen Fassungslosigkeit hervorgerufen, weil es die Freiheitsrechte so stark betont hat.

Ich erinnere mich an sehr zähe medizinethische Debatten in den letzten 20 Jahren zum Thema Impfen. Impfpflichten wurden immer sehr kritisch beäugt. Es wurde fast ein Tabu darübergelegt. Wir alle haben im Hinterkopf, wie über die Masernimpfpflicht in diesem Lande debattiert wurde, bis eine Art indirekte Pflicht durchgesetzt wurde.

Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig gesehen ‑ das hat nicht irgendeine Regierung, egal von wem angeführt, gemacht, sondern das ist eine Art Meinungsmainstream gewesen ‑, dass wir Menschen in einer Gesellschaft leben und dass es neben den Rechten und Freiheiten des Individuums immer auch übergeordnete Interessen der Gemeinschaft gibt.

Pflichten haben wir auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Zum Beispiel haben wir die Pflicht, eine Auto- oder Krankenversicherung abzuschließen. Diese Pflichten nehmen die Realität zur Kenntnis, dass es immer einen Prozentsatz von Mitbürgerinnen und Mitbürgern gibt, die denken, das betreffe sie nicht, weil sie keine Unfälle bauen oder weil sie nicht krank werden.

Unsere Gesellschaft lernt gerade, dass es neben ausgesprochenen Impfgegnern ungefähr ein Drittel gibt, die denken, dass Corona sie nichts angeht, und die eben nicht durch wissenschaftlich untermauerte Informationen zu einer vernünftigen Entscheidung kommen, die da lautet: Ich will mich selber und andere schützen, also lasse ich mich impfen. Ein Drittel Ungeimpfte - das ist zu viel, um eine exponentielle Ausbreitung zu verhindern.

Die Schlussfolgerung kann nur sein: Wenn in einer für die gesamte Gesellschaft gefährlichen Situation der Appell an Freiwilligkeit nicht ausreicht, um die Gefahr in den Griff zu kriegen, braucht es eine Pflicht - ganz unspektakulär.

Moralisch begründet werden kann das übrigens relativ leicht, durch eine sehr alte Regel, die nicht nur in der Bergpredigt formuliert wird, sondern in Varianten auch in vielen anderen Religionen und in sehr verschiedenen Gesellschafts- und Herrschaftsformen vorkommt. Sie lautet: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, tut es ihnen ebenso. - Oder negativ formuliert: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das heißt in unserem Zusammenhang: Ich möchte von anderen Menschen nicht gefährdet werden, also gefährde ich auch andere nicht.

Diese Regel berücksichtigt die eigene Perspektive und ergänzt diese Sicht auf die eigenen Interessen mit der Perspektive der anderen Menschen.

Diese moralischen, grundlegenden Überlegungen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen jeweils angepasste Impfkampagnen geben muss.

(Glocke des Präsidenten)

- Ich komme zum Schluss.

Auch bleibt die Frage, ob alle Menschen, die in unserem Land leben, guten Zugang zum Gesundheitswesen haben und sorgsam mit ihrer eigenen Gesundheit umgehen.

Wir brauchen ein realistisches Menschenbild, das Freiheit und Autonomie Raum gibt, aber auch sieht, dass es nicht zwangsläufig mit Pflichtbewusstsein und Verantwortung einhergeht - und dann braucht es auch mal eine Ansage durch eine Pflicht.

Daher plädieren wir für eine allgemeine Impfpflicht in dieser Corona-Pandemie für alle von der STIKO empfohlenen Altersgruppen, bitten um Zustimmung zu unserem Antrag und um Ablehnung des Antrags der Opposition.

Wer hier noch eine sehr differenzierte ethische Debatte haben möchte ‑ der sehe ich mit Freude entgegen ‑, der kann ja noch einen neuen Antrag zu dem Thema stellen.

(Dr. Stefan Birkner [FDP]: Das ist doch dann schon entschieden! Was sollen wir dann noch mit Ihnen diskutieren? - Gegenruf von Christian Grascha [FDP]: Das frage ich mich auch!)

Ansonsten wird es im Bundestag eine breite Debatte darüber geben, in der die Argumente dann ausgetauscht werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

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