20. Juni 2023: Plenarrede zur Krankenhausplanung und Notfallversorgung
Dr. Thela Wernstedt (SPD):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir leben in gesundheitspolitisch äußerst bewegten Zeiten. Das gilt schon für sich - ohne Panik schürende Ausführungen des geschätzten Kollegen Meyer.
Spätestens seit der Corona-Pandemie hat sich die Erkenntnis schmerzlich festgesetzt, dass wir aufgrund eines weitgehend ökonomisch gesteuerten Gesundheitswesens Fehlsteuerungen in der Versorgung unserer Bevölkerung haben. Experten haben das schon lange moniert, Erkrankte konnten das aus vielerlei Erfahrungen berichten. Minister Philippi hat es inhaltlich gerade skizziert mit dem Hinweis auf die Versorgung von Menschen mit Krebserkrankungen, von Patienten mit Schlaganfällen oder auch mit Herzinfarkten.
Zu betonen ist hierbei, dass die Fehlversorgung nicht an der Motivation oder Qualifikation der Mitarbeitenden liegt. Das ist mir sehr wichtig. Wir haben in Deutschland hervorragend ausgebildete Männer und Frauen in der Gesundheitsversorgung, die mit großem Engagement, einer hohen intrinsischen Motivation kranke Menschen therapieren und pflegen. Sie kompensieren viel in einem teilweise fehlgesteuerten System.
Minister Philippi hat die anstehenden Veränderungen in der niedersächsischen Krankenhausplanung, die mit den Reformen auf Bundesebene verzahnt werden müssen, bereits ausgeführt. Diese Verzahnung unterstützen wir, damit es keine Parallelentwicklungen gibt. Die Veränderungen müssen auf allen politischen Ebenen gut aufeinander abgestimmt werden.
Die Übergangsphase, bis die Reform der Finanzierung der Krankenhäuser greift, muss überbrückt werden. Dafür sind schon, wie erwähnt, über 2 Milliarden Euro in Aussicht gestellt worden. Wahrscheinlich muss es auch noch mehr werden, wie gerade schon ausgeführt worden ist. Das ist definitiv eine Bundesaufgabe. Landesaufgabe ist es, Investitionsmittel für die Krankenhäuser bereitzustellen und, wo auch immer es geht, zu erhöhen. Da die Haushaltsverhandlungen laufen, müssen wir zusehen, dass wir auch da etwas erreichen können.
Eine Reform der Notfallversorgung, um die es heute auch gehen soll ‑ also der Versorgung vor Ort, des Transports, der Therapie im richtigen Krankenhaus und der Situation in den Notaufnahmen in den Krankenhäusern ‑, war uns bei unseren Beratungen in der Enquetekommission ein sehr wichtiges Anliegen. Wir haben gemeinsam die Lage analysiert, haben auch den Bericht des Sachverständigenrates auf Bundesebene herangezogen und uns Modelle zur Versorgungsverbesserung wie z. B. die Gemeindenotfallsanitäter angesehen.
Neben anderen Entwicklungen gibt es auch besondere Inanspruchnahmen des Rettungsdienstes durch Bewohner*innen von Pflegeheimen in den letzten Lebenswochen. Wir beobachten seit Längerem eine Überinanspruchnahme des Rettungs- und Notfallsystems. Es gibt daher nicht eine Maßnahme und eine Lösung, sondern eine Vielzahl von Maßnahmen, die aufeinander abgestimmt werden müssen.
Ich möchte an dieser Stelle auch betonen, dass jeder Mensch ‑ von wenigen Ausnahmen abgesehen ‑ eine subjektive Not empfindet, wenn er oder sie die 112 anruft. Das ist immer ernst zu nehmen. Es ist auch kein rein deutsches Problem, sondern zeigt sich auch in vielen anderen Ländern. Die Antwort darauf muss sein, die richtige Versorgungsform für die sich in Not befindlichen Menschen zur Verfügung zu stellen. Es braucht Steuerung!
Wir haben eine Vielzahl von Schlussfolgerungen in der Enquetekommission gezogen und diese in einem Entschließungsantrag in der letzten Wahlperiode mit dem damaligen Koalitionspartner CDU formuliert. In dieser Wahlperiode in der Opposition, hat die CDU vor einigen Wochen einen Entschließungsantrag ‑ in weiten Teilen inhaltsgleich zu diesem gemeinsamen Antrag aus der letzten Wahlperiode ‑ formuliert.
Als regierungstragende Fraktion legen wir großen Wert darauf, dass die im Gesundheitsbereich gemeinsam erarbeiteten Reformen im Enquetebericht auch weiter gemeinsam getragen werden. Daher haben wir den Antrag in Ansprache mit unserem Koalitionspartner, den Grünen, und den Kolleginnen und Kollegen der CDU weiterentwickelt. Leider hat es aus formalen Gruppen auf den letzten Metern vor der Plenarsitzung nicht funktioniert, den Antrag gemeinsam einzureichen. Wir sind zuversichtlich, dass im Verlaufe der Ausschussberatung dies ein gemeinsamer Antrag werden kann.
So viel zum Verlauf. Jetzt noch zu den Inhalten!
Die heutigen Rettungsleitstellen, in denen die Notrufe für den Rettungsdienst mit der Nummer 112 auflaufen, sollen stärker zusammengelegt und zusätzlich mit der Aufgabe des hausärztlichen Notdienstes, der über die Nummer 116 117 läuft, betraut werden. Dazu brauchen sie Zugriff auf die verschiedenen Versorgungsmöglichkeiten, einschließlich z. B. von Gemeindenotfallsanitätern oder von Notfallpflegediensten, die noch zu entwickeln bzw. auszuweiten sind. Ziel ist die Weiterentwicklung zu Gesundheitsleitstellen.
Deutschland hat ein arzt- bzw. medizinzentriertes Gesundheitswesen. Das hat sich aus sehr verschiedenen Gründen in den letzten 150 Jahren so entwickelt. Dennoch gibt es viele Versorgungsprobleme, die nicht medizinisch zu lösen sind, aber dennoch in diesem medizinzentrierten System auflaufen und inzwischen zu einer völligen Überlastung aller geführt haben.
Die Leitstellendisponenten brauchen ein landesweit einheitliches, strukturiertes und auf wissenschaftlichen Ergebnissen aufbauendes Notrufabfragesystem und ein System für Dispositionsprozesse. Dies dient der Rechtssicherheit für die Disponenten und der Herstellung gleicher Versorgungsstandards im Lande. Dafür müssen die ohnehin schon hochqualifizierten und in der Regel sehr erfahrenen Leitstellendisponenten einheitlich weitergebildet werden. Ziel ist dabei eine bundeseinheitliche Ausbildung.
All dies geht nur in enger Zusammenarbeit mit den kommunalen Trägern der Leitstellen. Mit ihnen muss gemeinsam entschieden werden, welche Zusammenlegungen an welcher Stelle sinnvoll sind, in welchen Schritten wie vorgegangen werden kann.
Wir sprechen uns für eine Stärkung des §‑90‑a-Gremiums nach dem SGB V aus, um sich mit den relevanten Akteuren aus allen Notfallbereichen ‑ Rettungsdienst, hausärztlicher Notdienst, Notaufnahme ‑ und Vertretern der Landesregierung regelmäßig über die Veränderungsprozesse zu verständigen.
Die große Krankenhausreform, die jetzt ansteht, bietet einen Veränderungsschub auch für die bauliche und organisatorische Umgestaltung von Notaufnahmen in den Krankenhäusern. Um die Dringlichkeit eines Notfalls einzuschätzen und die Patienten zügig in die richtige Versorgungsform zu steuern, braucht es einen Tresen, eine hausärztliche Versorgungsschiene und die Krankenhausversorgung. Das Ganze nennt sich „Integrierte Notfallzentren“.
Ein Grund für die Überinanspruchnahme des Notfallsystems durch Patientinnen und Patienten ist die weitgehende Unkenntnis über die Versorgungsstufen, die wir zur Verfügung stellen. Andere Bundesländer haben gute Erfahrungen mit gezielten Aufklärungskampagnen gemacht. Auch Niedersachsen sollte über mehr Öffentlichkeitsarbeit Informationen ins Land bringen.
Wir haben in der Enquetekommission nicht nur die Reform der Krankenhausstruktur allen anderen vorausgedacht und in Gesetzesform gegossen, sondern auch im Bereich der Notfallversorgung wichtige Veränderungen, von denen ich gerade einige skizziert habe, erarbeitet. Daher ist Niedersachsen in der Lage, die Reformbemühungen des Bundes maßgeblich mit zu beeinflussen - auch was den für uns alle wichtigen Sektor der Notfallversorgung betrifft. Wir werden Minister Philippi bei allen Anstrengungen unterstützen und begleiten.
Ich möchte zum Schluss noch zwei Dinge ansprechen, da wir in einer Aussprache zu einer Regierungserklärung sind. An dieser Stelle kann es auch einmal grundsätzlicher werden.
Im Gesundheitswesen wird in den nächsten Jahren kaum ein Stein auf dem anderen bleiben. Die Krankenhausreform ist ein riesiges Vorhaben. Aber sie ist nur ein Symptom dafür, dass die Grundausrichtung unserer Gesundheitsversorgung, akutmedizin-zentriert und weitgehend ökonomisch ausgerichtet, gerade nicht zu einer guten Versorgung in Stadt und Land, für akut und chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung führt.
Die Perspektive der Gesundheitsversorgung muss chronisch Kranke und zu Pflegende stärker berücksichtigen. Bei all unseren Reformschritten muss eine stärkere Stellung der Pflege, müssen andere Zuschnitte in den Berufen von Tätigkeiten und Verantwortung ‑ Stichwort „Delegation“ ‑ mitgedacht werden. Nur dann wird es uns gelingen, die Versorgung von akut und chronisch Kranken, Pflegebedürftigen, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit multiplen sozialen Problemlagen zu verbessern. Dafür ist jetzt die Zeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Starker, anhaltender Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)